Ich bin mal wieder nachdenklich geworden. Am Wochenende habe ich das Buch von Gerald Hüther, #Education For Future, gelesen.
Darin: Kritik am aktuellen Schulsystem sowie Anregungen zur Veränderung in einer Art Praxisteil von und mit Marcel Heinrich und Mitch Senf.
Unter den ersten 100 Seiten auch ein Brief einer Neusser Schülerin. Der Name der Autorin sei Hüther bekannt, so schreibt er. Ob der Brief echt ist oder einfach nur gut in sein Buch passt, weiß ich nicht. Aber Gedanken aus Schüler:innen-Sicht zum Schulsystem sind ja nicht neu (z. B. die Kritik der Schülerin Naina über Twitter 2015). Generell werden diese sicherlich zu wenig gehört. Hier der Brief:
Sehr geehrte Frau Bildungsministerin,
ich bin eine 17-jährige Schülerin aus Neuss in NRW. Nächstes Jahr mache ich mein Abitur. Ich schreibe Ihnen in der verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht Sie mir einige meiner Fragen beantworten können. Meine Eltern können mir nicht wirklich weiterhelfen, meine Lehrer halten mich für quengelig, und meine Freunde zucken nur mit den Schultern. Sie sind die Ministerin für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen. Sie müssen es doch wissen, oder?
Also, ich bin in der Q2 und befasse mich in Bio gerade detailliert mit dem Aufbau einer hören Landpflanze und dem eines Laubblattes. In Mathematik rechnen wir windschiefe Geraden und deren Winkel zueinander im dreidimensionalen Raum aus, um danach mit Integralen die Fläche unter dem Graphen bestimmen zu können. In Deutsch hecheln wir, weil das Schuljahr so kurz ist, durch Marquise von O.… Die ist abiturrelevant, neben Faust, dem Haus in der Dorotheenstraße und dem Sandmann.
Hallo!?!? Ich habe noch sechs Monate bis zum Abitur und setze mich mit Sumpfdotterblumen und dem Flugverhalten von Leuchtkugeln auseinander!?
Wo liegen die Stärken für ein Leben nach der Schule?
Könnten Sie mir bitte erklären, warum ich mir das alles in den Kopf prügeln muss? Als hätte ich gar keine anderen Dinge, über die ich mir Gedanken machen müsste. Und sagen Sie mir nicht, ich lerne für mich oder fürs Leben. Das Leben findet irgendwo statt, aber ganz sicher nicht in der Schule. Für mich? Wer bin ich denn? Jemand, der sich das Bulimielernen antrainiert hat, der den Lehrern nicht die Tasche trägt und dadurch Notenpunkte riskiert. Jemand, der nebenbei versucht herauszufinden, wo seine Stärken liegen könnten, damit er sein Leben nach der Schule in Angriff nehmen kann. Mittlerweile weiß ich auch nicht mehr, was ich nach der Schule mit mir anfangen soll, aber dazu später mehr.
Wussten Sie, nur mal so nebenbei, dass die Wochenenden und auch die Ferien von den Lehrern wie selbstverständlich als Lern- und Hausaufgabenzeit angesehen werden? Ich kann die Sprüche nicht mehr hören: Dazu haben Sie doch das ganze Wochenende Zeit! Das können sie ja prima dann erledigen. / Also, die Lektüre für das nächste Schuljahr, die lesen Sie den Ferien durch. / Und das Referat geben sie in Schriftform am ersten Schultag nach den Ferien ab.
Ich hab da mal gegoogelt in den Bestimmungen des Schulgesetzes NRW. Aber sie wissen ja, was da drinsteht. Es ist nicht so, dass ich den Sinn von Hausaufgaben nicht verstehen würde. Aber diese totale Überheblichkeit und Ignoranz, was mein Privatleben angeht… Naja, ich bin halt nur Schülerin – ohne Abi, ohne Führerschein, ohne außerschulisches Leben.
Mit Mathe will ich übrigens nie wieder was zu tun haben! Mit meinem Vater habe ich vor den Klausuren jeweils mindestens drei bis vier Wochenenden geübt, jede erdenkliche Aufgabe aus den Büchern und dem Internet rausgesucht, immer wieder. Dann kann die Klausur, und mein Lehrer hat Aufgaben gestellt, die zum Teil fehlerhaft waren (was er während der Klausur auch zugegeben hat), und solche, die nicht mal mein Vater zu Hause in Ruhe nachvollziehen konnte. Also, Mathe: acht Punkte im Zeugnis.
Dazu sollten Sie wissen, seit ich etwa dreizehn Jahre alt bin, wollte ich Medizin studieren. Ich habe in der Schule alles angegeben, spätestens in der EF und der Q1 wirklich alles gegeben, damit ich einen möglichst guten Abischnitt habe, um den NC zu schaffen. Ihnen brauche ich nicht sagen, was die 8 Punkte in Mathe für mich bedeuten.
Ich kann übrigens auch nicht gut Volleyball spielen. Der Sportkurs, den ich gewählt habe, besteht aus Volleyball und Schwimmen. Da ich DLRG-Rettungsschwimmerin bin, dachte ich, da könnte ich vielleicht ein paar Punkte für das Abi sammeln. Unter den Augen meiner Sportlehrerin mittlerweile so katastrophal schlecht (O-Ton), dass auch meine Schwimmnote das nicht wird ausgleichen können. Dafür bin ich sehr gut in Leichtathletik, aber das wurde nur in Kombination mit Fußball (total ätzend) angeboten.
Meine Frage hierzu: wie kann es sein, dass mein Mathelehrer und meine Sportlehrerin darüber entscheiden, ob ich Medizin, Psychologie oder Jura studieren kann oder nicht? Und bitte, liebe Frau Ministerin, erklären Sie mir nicht, dass es ja noch so viele andere Möglichkeiten gibt, einen Studienplatz für Medizin zu bekommen. Ich kenne alle gängigen Varianten.
Aus einem YouTube-Video habe ich erfahren, dass ein nationaler Bildungsrat gegründet werden soll, der aber vielleicht doch nicht zustande kommt, weil es bei der Sitzverteilung Uneinigkeiten gibt. Ihr Ernst!? Sie wollen etwas bewirken und bekommen es nicht mal auf die Kette, sich zu treffen? Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Also wenn bei uns Gruppenarbeit ansteht und wir würden schon im Vorfeld rumjammern, wer mit wem zusammenarbeiten darf oder möchte, dann – na, Sie erinnern sich vielleicht auch noch an ihre Schulzeit. Haben Sie denn nirgends gelernt, wie man ein funktionierendes Team bildet, sich selbst und andere inspiriert, um Dinge kritisch und zum Wohl aller zu beleuchten und eine Sache sinnvoll voranzutreiben?
Tja, ich auch nicht.
Sehen Sie denn nicht, dass wir uns mit den heutigen und zukünftigen Schülern ständig Eigentore schießen? Sie lernen nicht das, was wichtig ist für uns, für unsere Gesellschaft. Sie werden erzogen zu Hirnakrobaten, die am Ende nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Sie werden behandelt wie Haustiere, die man dressieren kann, denen man verletzende Worte entgegenschleudern kann, wenn ein als Herrchen oder Frauchen danach ist. Zum Gassigehen werden sie alle 45 Minuten auf den Hof gelassen, unerwünschtes Verhalten wie Bellen und Knurren wird bestraft, man erwartet, dass sie nach erfolgter Abrichtung fliegen können – egal ob Hund oder Hamster.
In einem Punkt kann man sie jedoch nicht mit Haustieren vergleichen: Ihnen streichelt man nicht mal liebevoll über den Kopf, mit ihnen wird nicht gespielt oder rumgetollt, sie bekommen keine Leckerlis, wenn sie etwas gut gemacht haben. Oder spüren Sie, wie eine Eins auf der Zunge zergeht?
Sie finden das jetzt sehr überzogen und einseitig betrachtet? Kann sein, dass es anderen an anderen Schulen anders geht. Aber wussten Sie, dass in Deutschland jeden zweiten Tag ein Jugendlicher durch seine eigene Hand stirbt, also Selbstmord begeht? Ja, was geht denn da ab? Wie kann das sein?
Schulsystem aus längst vergangenen Zeiten
Vielleicht noch eins: Können Sie mir erklären, warum in unserer Schule nun in jedem Raum Smartboards hängen, mit den weder wir noch unsere Lehrer umgehen können? Dank dieser neuen Dekoration sitzen wir weiterhin auf schiefen und kaputten Stühlen, in Räumen mit kaputten Fenstern, die sich nicht öffnen lassen, und starren auf die Projektion des OHPs an der Wand. Über den Besuch der Toiletten, den jeder, wenn es irgendwie geht, vermeidet, will ich gar nicht anfangen zu sprechen.
Und warum trägt der Großteil meiner Lehre den Lernstoff derart kompliziert, monoton und langweilig vor, dass ich mir für die Klausuren sowieso allein mithilfe von YouTube Videos allein zu Hause beibringen muss? Ich kann Ihnen die Namen von genau zwei Lehrern sagen, die mir wirklich etwas Sinnvolles mitgegeben haben. Einer davon ist Mathelehrer (offensichtlich nicht mein aktueller), und er hat ein T-Shirt, auf dem steht: „Inspire someone today!“
Ich gebe niemandem die Schuld! Es liegt in der Natur der Sache, dass wir uns selber als Gesellschaft keinen Gefallen damit tun, wenn Kinder durch ein Schulsystem geschleift werden, dass nicht den Menschen in den Vordergrund stellt, sondern ein System aus längst vergangenen Zeiten. Wer soll denn all die aktuellen Probleme lösen? Und vor allem – mit welchen Mitteln?
Ich musste das jetzt mal loswerden an jemanden, der sich beruflich damit beschäftigt und Ahnung hat. Vielleicht bekomme ich ja wirklich die ein oder andere Antwort auf meine Fragen.
Mit freundlichen Grüßen
L.